Wir wissen nicht einmal, ob Maria Kalesnikova noch lebt



„Diese drei Frauen haben so sehr beeindruckt, sie haben die führende Rolle übernommen. Sie haben uns glauben lassen, dass wir den paternalistischen, gewalttätigen Staat nicht mehr brauchen“, erinnert sich Olga Shparaga.

Doch die drei bezahlten bitter dafür, das Regime Lukaschenko herausgefordert zu haben. Tichanowskaja und Zepalko mussten ins Exil fliehen, Maria Kalesnikova wurde vom Geheimdienst entführt und an die ukrainische Grenze geschleppt.

Doch dort zerriss sie ihren Pass – ins Ausland konnte sie so nicht mehr abgeschoben werden. Noch im folgenden Herbst wurde die Oppositionsführerin wegen „Extremismus“ und „versuchter Machtergreifung“ in Minsk zu elf Jahren Haft verurteilt.

Seit vier Jahren sitzt die 42-jährige Querflötistin nun hinter undurchdringlichen Gittern und Mauern in der Frauenstrafkolonie Nr. 4 in der Stadt Homel. Seit eineinhalb Jahren gibt es kein Lebenszeichen mehr von ihr. Keine Briefe, keine Telefonate, keine Besuche, keine Päckchen, die ihr geschickt werden dürfen. 

“Das ist einfach Folter. Man will Maria brechen”

Seit 18 Monaten befindet sich die Musikerin in Isolationshaft, in einer Zelle, die gerade mal 1,60 breit und 2,50 Meter lang ist. An den Wänden ist eine Pritsche befestigt, die nur zwischen 20:30 bis 5:00 Uhr heruntergelassen werden darf. Die Toilette ist ein Loch im Boden. Nachts bleibt in der Zelle das Licht an. Eine halbe Stunde pro Tag darf die Gefangene vor ihre Zelle, Reden mit anderen ist verboten. 

„Wir wissen gar nichts. Wir können nicht einmal mit Gewissheit sagen, ob Maria noch lebt“, sagt ihre frühere Mitstreiterin Olga Shparaga.

Das Einzige, woran sich die Aktivistin in Wien klammert, ist die Hoffnung, dass die Schilderungen von freigelassenen Frauen aus der Strafkolonie stimmen könnten. „Sie wollen die Stimme von Maria gehört haben, als sie einmal mit einem Wärter gestritten hat.“ 

Aber auch: Die 1,75 Meter große, früher kräftige Künstlerin soll heute nur noch 45 Kilogramm wiegen, ihr Zustand lebensbedrohlich schlecht sein. Nach einem Durchbruch eines Magengeschwürs wurde sie zwar noch operiert, danach aber erhielt sie ihre nötigen Medikamente nicht mehr. 

Und das Gefängnisessen – „es ist sehr schlecht, das weiß ich“, sagt Olga Shparaga – verträgt Maria Kalesnikova nicht. Aber Schonkost ist in der Frauenstrafkolonie Nr. 4 illusorisch; Haferschleim darf der Magenkranken schon seit Februar 2023 nicht mehr geschickt werden. „Folter“, sagt Olga, „das ist einfach Folter. Man will Maria brechen.“ 

Was von ihr erwartet wird, ist ein Reuebekenntnis.

Von zehn der prominentesten Häftlinge fehlt jedes Lebenszeichen

Lächelnd war Kalesnikova bei ihrer Verurteilung hinter Gittern gestanden, mit ihren Händen hatte sie ein Herz geformt. „Maria war immer so positiv, sie hat ihre roten Lippen als Signal getragen. Am Anfang im Gefängnis hat sie ihren Lippenstift verteilt und die anderen Frauen haben sich als Akt der Solidarität ebenfalls die Lippen rot bemalt“, schildert Olga Shparaga. 

Aber diese so sehr geschwächte Symbolfigur des Widerstandes, sie brauche “jetzt, jetzt sofort Unterstützung”, drängt die besorgte Freundin in Wien. Und es sei nicht Maria Kalesnikova allein. Von rund zehn der prominentesten politischen Häftlinge in Belarus hat man seit eineinhalb Jahren nichts mehr gehört.

Auch Swetlana Tichanowskaja weiß nicht, ob ihr Mann im Gefängnis noch lebt. Kein Lebenszeichen, kein Mensch darf zu ihm. Von Viktor Babariko, an dessen Stelle Maria Kalesnikova wahlgekämpft hatte, weiß man nur, dass er vor einem Jahr im Gefängnis attackiert und schwer verletzt wurde. Auch dessen Sohn wurde mittlerweile zu acht Jahren Gefängnis verurteilt.

Rund 1.350 politische Gefangene listet die Menschenrechtsorganisation Vjasna in Belarus auf. Im Juli begnadigte Diktator Lukaschenko 115 Menschen, „Aber dann wurden gleich wieder 480 Menschen verhaftet“, erzählt Olga Shparaga. „Das ist ein Signal nach innen: Es gibt keine Liberalisierung.“ Jeder Keim offenen Widerstands werde derzeit erstickt, weiß die Aktivistin im Exil. 

“Sie haben uns einfach vergessen”

„Die Mobiltelefone von Studenten werden nach ,extremistischen Inhalten’ durchsucht, und jetzt werden auch Leute verhaftet, die vor ihrer Rückkehr nach Belarus im Ausland an Protesten teilgenommen haben. Im Jänner wurden sogar 200 Frauen festgenommen, die Lebensmittel für die politischen Gefangenen gesammelt haben.“

Als Ende Juli Gerüchte von einem Gefangenenaustausch zwischen den USA und Russland auftauchten, flammte auch bei den verzweifelten belarussischen Aktivisten Hoffnung auf. Vielleicht wäre ja Maria Kalesnikova dabei, vielleicht Sergej Tichanowski. 

Doch keiner von ihnen stieg aus diesem Flugzeug, in dem eigentlich auch der – zuvor verstorbene russische Dissident Alexej Nawalny – hätte mitkommen sollen. „Sie haben uns einfach vergessen“, sagt Olga Sparaga, „Deutschland, das verhandelt hat, hat uns vergessen. Dabei hat Maria in Stuttgart studiert. Maria, die Ehrenprofessorin am Konservatorium der Mozarteum-Uni in Salzburg – sie haben sie vergessen.“ 



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