Europa sieht weg und schweigt


Seit Jahren findet eine rhetorische Aufrüstung gegenüber Flüchtenden statt. Darauf folgen Taten.

Als Außenminister Alexander Schallenberg vor Kurzem Athen besuchte, war er voller Lob: Griechenland habe „250.000 Menschen aus Seenot gerettet“. Jede Kritik der Untätigkeit gehe „ins Leere“. Griechenland verdiene bei der Bekämpfung der illegalen Migration „unsere volle Unterstützung und Solidarität“.

Inhalt und Zeitpunkt dieser Aussagen sind bemerkenswert: Griechenland wird nicht Untätigkeit, sondern grober Rechtsbruch vorgeworfen. Kurz vor Schallenbergs Besuch förderte eine BBC-Dokumentation massive Vorwürfe gegen die Küstenwache zutage. Überlebende berichteten, sie seien auf griechischen Inseln gejagt und anschließend auf dem Meer ins Wasser geworfen worden – manche gefesselt. Die Küstenwache soll für 40 Todesfälle in drei Jahren verantwortlich sein. Schallenberg thematisierte dies nicht öffentlich, ebenso wenig wie die zahlreichen weiteren tödlichen Vorfälle, in die die Küstenwache involviert war. Auch die meisten heimischen Medien hakten nicht nach.

Dieses Schweigen passt in ein politisches Gesamtbild, das Alarmglocken läuten lassen sollte. Wir erleben eine Verschiebung der Narrative, in der aggressive Abwehrmaßnahmen gegen Flüchtende immer mehr akzeptiert werden. Es wird in Kauf genommen, dass Asylsuchende ohne Prüfung über Grenzen zurückgeschoben werden („Pushbacks“); dass Bootsflüchtlinge in Libyens Lagern interniert werden; dass der EU-Grenzschutz an Länder wie Tunesien und Marokko ausgelagert wird; und dass es auch innerhalb der EU immer mehr Beweise für illegale Praktiken gibt – siehe Griechenland.

Immer weniger Beachtung finden hingegen die menschlichen Kosten dieser Politik. Diese nehmen aber zu. Wo blieb die Reaktion, als ein Massengrab mit Leichen von Migrant:innen an der tunesisch-libyschen Grenze gefunden wurde? Stattdessen finanziert Österreich weiterhin ein Ausbildungszentrum der tunesischen Grenzpolizei – der vorgeworfen wird, in ebendiesem Gebiet Flüchtende einfach in der Wüste auszusetzen. Auch über die humanitäre Notlage an der polnisch-belarussischen Grenze hört man wenig. Vor wenigen Tagen sprach die Hilfsorganisation NRC in einem Bericht von 9000 gewaltsamen Pushbacks und 82 Toten seit 2021. Die politische Situation dort ist vertrackt – nichts rechtfertigt aber einen derart brutalen Umgang mit Menschen, die Schutz suchen. Menschenrechte gelten für alle.

Hinsehen statt verschweigen

In allen Hotspots der EU-Abschreckung sind auch unsere medizinischen Teams tätig. Ärzte ohne Grenzen behandelte in zwei Jahren mehr als 28.000 Patientinnen und Patienten, die an EU-Grenzzäunen, bei Pushbacks oder mangels Rettung auf hoher See zu Schaden gekommen sind. Diese Fälle führen vor Augen, was die Politik verschweigt, wenn sie ihre Abschreckungsmaßnahmen lobt. Die Verantwortlichen erzählen den Wähler:innen nicht, dass ihre Politik Menschen real verletzt und sogar tötet. Sind wir wirklich bereit, das alles in Kauf zu nehmen, um Flüchtende von Europa fernzuhalten? Auch die Aushöhlung des Rechts, die damit einhergeht – für uns alle?

Was wir jetzt brauchen, ist eine neue Grundannahme, auf der unsere Flucht- und Migrationspolitik basieren kann. Wir müssen Menschlichkeit und Menschenrechte ins Zentrum der Bemühungen stellen. Hinschauen statt verschweigen. Das ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Weitsicht und ermöglicht neue Lösungen. Die Politik der Unmenschlichkeit muss durch eine der Vernunft und des Rechts ersetzt werden.

Marcus Bachmann ist Humanitärer Berater bei Ärzte ohne Grenzen.

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