Ein Krieg aller gegen alle?


28. Juli 1914. Vor genau hundert Jahren begann mit dem Ersten Weltkrieg auch der Untergang der Habsburgermonarchie.

Als Franz Joseph I. am 28. Juli 1914 – einen Monat nach dem Attentat in Sarajewo – Serbien den Krieg erklärte, dachte kein Militär und kein Zivilist Österreich-Ungarns an einen Untergang der Habsburgermonarchie. Allerdings löste diese Kriegserklärung eine europäische Kettenreaktion an Mobilisierungen, Ultimaten und Kriegserklärungen aus, sodass Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich binnen zweier Wochen gegen Russland, Frankreich und Großbritannien (samt Dominien und Kolonien) im Krieg standen, in einem „Krieg aller gegen alle, wie ihn die Weltgeschichte noch nicht erlebt hat“. Zweifellos agierten in Wien, Berlin, St. Petersburg, Paris, London und Belgrad hochgerüstete Kriegsparteien – auch angestachelt von führenden Zeitungen – als „Kriegstreiber“, weniger als „Schlafwandler“.

Trotz der eben zu Ende gegangenen Balkankriege vermochten sich aber nur wenige vorzustellen, welche Wirkung der Masseneinsatz von neu entwickelten Waffensystemen wie Maschinengewehre, Schnellfeuergeschütze, Mörser, Gaspatronen, U-Boote und Flugzeuge erzielen würde. Erst als im Herbst 1914 in Galizien und in Nordostfrankreich ganze Regimenter an einem Tag vernichtet wurden, begann den Militärs wie der Zivilbevölkerung der Schrecken des neuen Kriegs bewusst zu werden. Auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs in Galizien und Serbien, am Isonzo und in den Südtiroler Alpen, bei Ypern und bei Verdun, in Ostpreußen und bei Gallipoli, in Ostanatolien, Mesopotamien und Palästina verloren insgesamt 9,5 Millionen Soldaten ihr Leben: 1,9 Millionen Deutsche, 1,8 Millionen Russen, Ukrainer, Weißrussen, Finnen, Balten, Tataren und Kaukasier, 1,4 Millionen Franzosen (einschließlich Marokkaner, Algerier, Tunesier und Senegalesen), 1,2 Millionen habsburgische Soldaten (Deutschösterreicher, Magyaren, Tschechen, Slowaken, Polen, Ukrainer, Rumänen, Serben, Kroaten, Bosniaken, Slowenen und Italiener), 950.000 Briten (einschließlich Kanadier, Australier, Neuseeländer und Südafrikaner), 800.000 Osmanen (Türken, Kurden, Araber), 680.000 Italiener, 340.000 Rumänen, 250.000 Serben, 125.000 US-Amerikaner und 100.000 Bulgaren. In den verschiedenen Armeen kämpften Katholiken, Protestanten, Orthodoxe, Anglikaner, Muslime, Juden, Hindus und Buddhisten, vielfach betreut von ihren Feldgeistlichen. Zusätzlich zu den 9,5 Millionen Gefallenen gab es 6,5 Millionen Ziviltote und mehr als 21 Millionen Kriegsinvalide, davon 3,6 Millionen Soldaten der k. u. k. Armee.

9,5 Millionen tote Soldaten

Gemäß dem Kriegsleistungsgesetz 1912 wurden in Österreich und Ungarn sofort bei Kriegsbeginn alle kriegswichtigen Betriebe einer strikten militärischen Kontrolle unterworfen. Die wichtigsten Betriebe waren die Škoda-Werke in Pilsen, die Chemischen Werke in Aussig, Maschinenfabriken in Prag und Brünn, das Stahlwerk in Witkowitz, die Steyr-Werke, das Artillerie­arsenal in Wien, die Munitionsfabrik in Wöllersdorf, die Patronenfabrik in Hirtenberg, die Pulverfabrik in Blumau, die Flugzeugwerke in Wiener Neustadt, die Böhler-Werke in Kapfenberg, die Dynamitfabrik in Pressburg und die Manfred-Weiss-Werke in Budapest. Alle kriegswirtschaftlich wichtigen Unternehmen zusammen beschäftigten 1917/18 rund 1,4 Millionen Arbeiter und Arbeiterinnen, unter ihnen 400.000 Frauen. Alle Beschäftigten waren militärischer Führung und militärischer Gerichtsbarkeit unterworfen.

Die tatsächlich bezahlten Kriegsausgaben der beiden Reichshälften dürften von Juli 1914 bis Oktober 1918 knapp 81 Milliarden Kronen betragen haben. Rund zwei Fünftel der Kriegskosten wurden durch Darlehen der Österreichisch-Ungarischen Bank aufgebracht, die übrigen drei Fünftel durch Kriegsanleihen, acht Anleihen seitens der österreichischen Finanzverwaltung, 17 seitens der ungarischen. Nach Kriegsende waren die Kriegsanleihen praktisch wertlos; viele Familien verloren ihre größeren und kleineren Vermögen.

Mischung aus Angst und patriotischer Begeisterung

Unter der Zivilbevölkerung herrschte bei Kriegsbeginn eine seltsame Mischung aus patriotischer Begeisterung, Ängsten und Unwissenheit. Von den knapp 51 Millionen Einwohnern Österreich-Ungarns (1910) mussten im Verlauf des Weltkriegs nahezu neun Millionen als Soldaten einrücken. Sie wurden in der Landwirtschaft, im Gewerbe, in der Industrie, im Verkehrs- und Postwesen sowie in der Verwaltung durch Frauen sowie ältere Mädchen und Burschen ersetzt. Nach deutlichen Ernteeinbußen setzte bereits 1915 eine Verknappung von Lebensmitteln und Konsumgütern ein, vor allem in den größeren Städten. Spekulationsgeschäfte, Wucher und Schwarzmarkt nahmen zu. Immer breitere Bevölkerungsschichten verarmten. Ab dem Winter 1916/17 gab es Hungerkrisen und Kohlemangel; 1917 nahmen die Streiks zu und erreichten in Jännerstreik 1918 einen Höhepunkt; im Frühjahr 1918 folgten Meutereien von Heimkehrern aus russischer Kriegsgefangenschaft. Schon im September 1918 war den Regierenden in Wien und in den Kronländern bewusst, dass bei Fortdauer des Kriegs über den Winter 1918/19 eine Hungerkatastro­phe drohte.

Mit der Wiedereröffnung des österreichischen Reichsrats am 30. Mai 1917 hoffte Kaiser Karl, die schwelenden nationalen Auseinandersetzungen in demokratische Bahnen zu lenken. Aber die tschechischen wie die südslawischen Abgeordneten verlangten bereits eigene Staatswesen innerhalb der Habsburgermonarchie, wogegen die Abgeordneten des Deutschen Nationalverbands scharf protestierten. In drei Geheimen Sitzungen des Reichsrats zwischen vom 23. bis zum 25. Juli 1918 sprachen dann Abgeordnete aller Nationalitäten bereits unverblümt die nationalen und gesellschaftlichen Bruchlinien an. 

Als Kaiser Karl in einem Manifest vom 16. Oktober 1918 die Umwandlung Österreichs in einen Bundesstaat ankündigte, sah der ungarische Ministerpräsident ­Wekerle sofort den österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 infrage gestellt. Da aber weder Kaiser Karl noch das Armeeoberkommando ein letztes Gefecht zwischen den Truppen im Hinterland und den nationalen Demonstranten in Prag, Budapest, Krakau, Lemberg, Wien, Laibach und Zagreb erzwingen wollte, erließ das k. u. k. Kriegsministerium am 28. Oktober 1918 eine Weisung an alle 16 Militärkommanden, „mit den National-Räten ihres Bereiches zum Zwecke der Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung (…) im Bedarfsfalle in Verbindung zu treten“. Tatsächlich erfolgte bereits am 28. Oktober 1918 der politische Umsturz in Prag, am 29. in Zagreb und Laibach, am 30. in Wien und am 31. in Budapest. Auf dem Boden der Habsbur­germonarchie waren innerhalb von vier Tagen vier neue Nationalstaa­ten entstanden; wenige Tage später folgte auch Polen. Die Verzichtserklärungen Kaiser Karls gegenüber der deutschösterreichischen wie gegenüber der ungarischen Regierung besiegelten das Ende der Herrschaft der Habsburgerdynastie – in Österreich nach 636 Jah­ren, in Ungarn und den böhmischen Ländern nach 392 Jahren.

Eine von Arnold Suppan kuratierte Aus­stellung in der Aula der Österr. Akade­mie der Wissenschaften zeichnet derzeit den Weg in den Untergang der Habsburger­monar­chie nach. Dr.-Ignaz-Seipel-Platz 2, 1010 Wien, Mo–Fr, 8–17 Uhr, Eintritt frei.

Elia Zilberberg/ÖAW

Der Autor:

Arnold Suppan ist Osteuropa-Historiker, em. Universitätsprofessor der Universität Wien und Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.

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